Christian Weihrauch
In den letzten Jahren ist in der Kunst ein Trend zum großen Ölbild zu beobachten. In diesem Kontext, insbesondere im Leipziger, fallen schon rein formal und technisch gesehen die Zeichnungen von Christian Weihrauch aus dem Mainstream heraus. Sie könnten leicht im Bilderreigen großer Gesten untergehen, denn sie sind kleinformatig und fordern zum intensiven Sehen auf. Dabei offenbart er sich uns als ein fabulierender Zeichner, der sich auf ein Abenteuer einlässt, wenn er mit dem Setzen der ersten Striche beginnt und dem Assoziieren wohlwollend, aber nicht ungezügelt freien Lauf lässt. Der zum Teil langwierige Arbeitsprozess fördert aus den Tiefen des ikonografischen Unbewussten poetische Sinnbilder hervor. Der Titel der Ausstellung „Vagabunden“ mutet ein wenig romantisierend an, denn die Herumtreiber, oder das Fahrende Volk sind in unserem Gedächtnis als arme aber freie Menschen verankert, die außerhalb der sozialen Ordnung leben, keine feste Bleibe aufweisen und sich mittels krimineller Handlungen, Tricks, Kunststücke und einer rabiaten Schläue durchs Leben schlagen - die von uns gefürchtet und bewundert wird. Doch das ist schon eine, die Zustände verklärende Projektion auf Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Kontext herausgefallen sind, verarmt und obdachlos am Rande der sozialen Ordnung leben - und das seit Jahrhunderten und weltweit. In Wirklichkeit sind sie als nutzlose Herumtreiber, als Gefahr für Moral und Ordnung stigmatisiert. Ihre Existenz ist in unserem Gedächtnis irgendwo in der Zeit der Vormoderne angesiedelt. In der Literatur und in der Malerei fanden sie als Kunstfiguren in der beginnenden Moderne und in der Romantik ihr ästhetisches Zuhause, um den Blick von außen auf das Leben der gesellschaftlichen Ordnung zu werfen. In der Kunst wird der Vagabund zu einem kritischen und moralisierenden Korrektiv auf die unzulänglichen sozialen, ökonomischen, politischen und ethischen Zustände der Zeit. Der heutige, sozial Geächtete und der Asylsuchende haben ihre Aura des Ungebundenen und des befreienden Unbehaustseins in unserer Vorstellung eingebüßt. Die Obdachlosen in den Städten verbinden wir nicht mehr mit der poetischen Metaphorik vom verwegenen Vogelfreien, der von Ort zu Ort zieht und den gesellschaftlichen Zwängen Adieu sagt. Doch dagegen die, vom Freiheitsdrang unruhig getriebene „Kunst-Figur“: seit Jahrzehnten finden wir sie wieder im „einsamen Steppenwolf“ der Roadmovies, ihr hören wir in den Songs des Rock&Pop zu, von ihr lesen wir in den Bestsellern und ihr begegnen wir in den Fantasyfilmen.
In seinen subtilen Blättern ersteht die metaphorische Gestalt des „Vogelfreien“. Sie nimmt das Wesen eines melancholischen Wanderers zwischen den Malerei-Welten an, sie wird zum Phönix, zur Tagesmutter und zum Zeitgenossen, der eifrig seiner Tätigkeit nachgeht oder sich irgendwo in die Kindheit zurück katapultiert, dorthin, wo das Paradies noch nicht so zugige Ein- und Ausgänge aufweist; zumindest in der Erinnerung erscheinen die Kindertage in diesem Licht. Seine Schöpfungen durchstreifen zu Fuß oder per Rad und Moped die Weltlandschaften, deren blaue Himmel mit hellen Bergkuppen verstellt sind. Oder der Einsame befindet sich im verwurzelten und veräderten Traumtableau wieder, das unseres einfühlsamen und wissenden, zugleich unvoreingenommenen Sehens bedarf, um in seiner überbordenden Fülle an Realitäts- und Personalfragmenten die Gesichter, Stimmen und das Raunen einer in sich geschlossenen Welt wahrzunehmen. Dabei ergibt sich kein gerader Erzählstrang. Vieles geht ineinander über, verwandelt sich allmählich in eine andere Zeit- und Dingebene. Die Handlungen werden angedeutet und laufen in paradoxen Gebärden oder in enigmatischen Konstellationen aus. Das Dargestellte gibt sich, als wenn es schon einmal irgendwo zu sehen war, zum Beispiel in den Malereien der Italiener und der Niederländer des 15. und des 16. Jahrhunderts, in Filmen und in Illustrationen. Zumindest haben wir oft das Gefühl, dieses oder jenes Detail schon einmal in einem anderen Zusammenhang so oder so ähnlich wahrgenommen zu haben, sei es eine Fassade einer Eigenheimsiedlung, eine spätmittelalterliche Büßerlandschaft, eine Tischgesellschaft oder eine Körperhaltung eines Halbnackten, die wiederum, gleich einem Dejàvu an einen Knecht aus einer italienischen Kreuzigungsszene der Frührenaissance denken lässt. Wie in einem Palimpsest überlagern sich dort Bedeutungsebenen und Bildgespinnste, die an gutmeinende, aber nicht mehr zu beherrschende Träume erinnern. Einige seiner Titel, wie etwa die „Lampe“ (2008), bezeugen die phantastischen Metamorphosen innerhalb des Floralen, Anthropomorphen und des Urbanen. Die Bezeichnung anderer Blätter wiederum verschweigen das zu Sehende, zum Beispiel die „Lederjacke“ (2007). Innerhalb dieses Bekleidungsstückes laufen turbulente Aktionen ab: Fahnenschwenker und hemdsärmlige Männer, in den Posen des Schlagens und des Demonstrierens, sind in den Trachten des frühen 19. Jahrhunderts gewandet. Sie bilden eine Protest- und Aufruhrmasse. Die „Revolte in der Jacke“ wird gebannt durch die Silhouette des Bekleidungsstückes aus Leder, welches wiederum als Kultbekleidungsstück aufmüpfiger Jugendlicher nach dem 2. Weltkrieg gegen die „Alten“ und gegen das kleinbürgerliche System gelten kann. Ein anderes Bekleidungsstück, das nicht immer für die Mitmenschen sichtbar ist, die Unterhose, bildet den Fond für das Bild „Schule“ aus dem Jahr 2008. Hier läuft eine abenteuerliche, halb bekleidete Männergestalt mit Strohhut vor einer Häuserlandschaft, mit Einblick in ein quirliges Treiben, von links nach rechts. Sie wirkt, als wenn sie sich vor einer filmartigen Erinnerungslandschaft aufhält und ihr entfliehen will. Sein Hineinzeichnen in Darstellungen von Lampen, Gläsern, Architekturen und auf die zweite Haut des Menschen, auf seine Bekleidungsstücke, erinnert an Tattoos. Denn auch bei ihnen ist der Bildträger mobil und setzt rein formal gesehen, bildnerische Grenzen. In allen Blättern ist eine Diskrepanz zwischen dem surrealen Durchdringen, dem Neben- und Übereinander von Motiven und dem diszipliniert geordneten Setzen diffizilster Schraffuren und Strichlagen zu erleben. Die dabei von ihm verwendeten farbigen Stifte bedingen eine pastellhafte Sanftheit, die vom Braunerdigen bis zum Regenbogenspektrum oszilliert. Das Weiß des Blattes ist ein ort- und zeitloses Terrain, das gleichsam, indem es sich ausbreiten würde, das grafische Gebilde überblenden könnte. So wird es zu einem subtilen Memento mori, zu einem Innehalten, um die fragilen Konstellationen auch als solche des gefährdeten Augenblicks zu würdigen. Wenn es in seinem bisherigen Werk eine narrative Logik gibt, dann ist es die der unvorhersehbaren Metamorphosen und die des sich bedingenden logisch Zufallhaften. Der Grundtenor ist vielleicht mit einem Hauch von romantisierender Melancholie durchwoben.
Armin Hauer