Volker März

- Was siehst du in deinem Schlamm?

Ich sehe eine Ausstellungseröffnung in einer Kunstgalerie.

- Gute Kunst?

Soviel ich sehen kann geht es ausschließlich um den Holocaust: Bilder von Konzentrationslagern, Öfen, Leichenberge, KZKleidung.

- Sind viele Besucher dort?

Ja, sehr viele – die Galerie ist überfüllt ... niemand steht vor der Tür.

- Und was machen die Besucher so dicht gedrängt – sind sie betroffen? Diskutieren sie?

Nein ... ich sehe, dass sich alle küssen und zwar sehr scheu mit Zungenkuss.

- Zungenkuss?

Ja – ich weiss nicht wieso, aber alle küssen sich mit offenen Mündern und mit den Zungen, ohne sich zu umarmen.

- Hat der Künstler sie dazu aufgefordert?

Das weiß ich nicht

-Wollen sie vom Thema ablenken?

Kann sein ... aber es mutet auch sehr einvernehmlich an – es ist ein schönes Bild ... und vielleicht sind die Besucher letztendlich nur froh, dass sie überleben, - vielleicht haben sie zum ersten mal erkannt, dass nicht nur die maschinelle Vernichtung oder Versklavung des Anderen seit Jahrtausenden weltweit menschlich ist, sondern auch, dass die Überwindung der Angst vor dem Anderen durch Annäherung und intime Berührung ebenso menschlich sein könnte.

- ...oder sie wollen, statt Kunst zu konsumieren, ihr eigenes kleines Leben ab heute zu einem selbstbestimmten Kunstwerk machen?!

 

- Mein Liebster du da im Schlamm, warum faselst du in deinen mir beschriebenen neuen Bildern immerzu von Sternen und Eseln?

Mein liebster Immerzufragender, du da draußen immerzu Ausserhalbseiender, warum kommst du nicht in den Schlamm, dann kannst du es selber sehen ...

- Ich habe genug zu tun mit dem Hier und Jetzt. Sag schon, ist es ein religiöses Motiv?

Nein, es geht um einen Aphorismus von Nietzsche, der besagt, dass man noch genug Chaos in sich haben sollte um Sterne zu gebären ...

- Das kenne ich ... und? Was für Sterne werden das sein? Und was meint er mit Chaos?

Eine Sternengeburt muss sehr schmerzhaft sein.

Mit Sicherheit, wird es den Gebärenden verbrennen, zerfetzen ... also nimmt der Esel den gesamten Schmerz auf sich, weil er meint, er habe noch genug Wirrnis in sich, um das Leben in seiner unauflösbaren Widersprüchlichkeit lustvoll zu empfinden – um den Unsinn zuzulassen – die Leidenschaftsfähigkeit zu erhalten, denn dafür steht der Stern! Alle Angst in ein unendlich stilles Glück zu verwandeln ... nicht nur in Gehorsam, in kurz kriechende Atemzüge, sondern in einen langen Atem ausserhalb aller Systeme, Gebote, Gesetze, Regeln + momentaner Haltegriffe ... um damit mehrere Wahrheiten für ein und dasselbe zuzulassen ... und um ...

-Wow!!!

Spotte du nur - Esel sind auch nur Menschen – aber größer – störrischer – belastbarer ... und schöner

- Schöner – da magst du Recht haben

... und erotischer

- ...auch das!

Eine weichere und größere Schnauze

- Ok

Ach einfach alles ist besser ausgebildet als bei einem Menschen.

- Trotzdem benutzt man sie – sind sie dem Menschen Untertan

Das scheint nur so

-Warum

Der Esel denkt sich seinen Teil ...und schweigt

- Nicht immer – manchmal klagt er aber auch ganz schön laut: IA IA IA

Zu Recht, denn das ist der Moment, in dem er Sterne gebiert.

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