Reto Camenisch

Sinfonie für Heimatlose
Vor sieben Jahren ist Reto Camenisch aufgebrochen, um die Bilderflut abzuschütteln, der er so lange Jahre ausgesetzt war. Unterwegs in aller Welt, wollte er wieder zu den ganz eigenen Bildern finden. Zurückgekommen ist er mit Fotografien, die alle eine unwillkürliche Sehnsucht auslösen.

Seit über zwanzig Jahren porträtiert Reto Camenisch Menschen. Als Reportage- und als Werbefotograf hat sich der 48-jährige Thuner weit herum einen Namen gemacht. Auf den Bildern seiner jüngsten Werkgruppe sind die Menschen verschwunden. Die wachsende Bilderflut, der Camenisch in all den Jahren ausgesetzt war, hat auch ihm, dem Profi, zugesetzt. Vor sieben Jahren ist er ausgezogen, um sich von ihr zu befreien und zu den ganz eigenen Bildern zurückzufinden.

Zu Bildern, die er noch nie gesehen hat, von denen er nur eine leise Ahnung hatte. Im Kopf hatte er Aufnahmen, in denen sich jenes Gefühl spiegelte, das ihn manchmal draussen in der Natur übermannte. «Ein Grundton, der mich beim Anblick einer Landschaft, eines Ortes ergreift. Diese Melodie öffnet mich unmittelbar und dringt tief in mich hinein, ohne Umweg, ohne Denkprozesse und Fragen», beschreibt Camenisch dieses Gefühl, das diese Orte ihm zu einer Art Heimat macht.

Sperrige Kamera
Die Suche nach den tönenden Bildern hat ihn nach Neuseeland geführt, nach Afrika und Andalusien, in die Bretagne, nach Irland oder auf den Grünenberg im Berner Oberland. Viel Zeit hat sie ihm abverlangt, und «Zeit» heisst denn auch der Bildband mit rund achtzig Aufnahmen. Weder Traumlandschaften noch verlorene Paradiese hat Camenisch gesucht. Seine Heimatmelodie hat er in unspektakulären Landschaften gefunden, deren Unberührtheit noch nicht vom Mensch definiert und vereinnahmt worden ist.
Zu Fuss war er häufig unterwegs, auf dem Rücken eine Grossbildkamera, die keinerlei Schnappschüsse, dafür unendlich lange Einstellungen erlaubt. Ein sperriges unhandliches Gerät, der viel vom Fotografen abverlangt, nicht nur Zeit. Doch ihre Ansprüche, ihr Gewicht und ihre Eigenarten haben Camenisch offenbar in die perfekte Schwingung versetzt, um die Einheit von Zeit und Ort zu erfassen, die seine Heimatmelodien zum Klingen bringt. Und dem geschundenen Begriff «Zeit» seine längst abhanden gekommene kostbare Dimension zurückgibt.
Fundstücke
Keine durchkomponierten Fotografien zeigt Camenischs Bildband. Seine Bilder sind Fundstücke, die durch die Wahrnehmung des Fotografen zu Kunstwerken werden, Gemälde der tausend Schattierungen, der zufälligen Strukturen, wie sie nur das Zusammenspiel von Licht, Wolken und Schatten fertig bringt. Nicht nur Reto Camenischs Melodie klingt auf den Momentaufnahmen an, die er nach den langen Reisen in seinem Atelier ans Licht geholt hat. Ihre eigentümliche Harmonie überträgt sich auf den Betrachter, löst eine unwillkürliche Sehnsucht aus.
Eine Wüste in Marokko, ein paar Inseln vor Irlands Küste, Nebelfetzen am Niesen (Bild), ein Baum am Kilimandscharo, eine Felswand in Neuseeland werden zu Gezeiten, die Camenischs gefundene Melodien zu einer einzigartigen Sinfonie anschwellen lassen, die nicht nur Heimatlose betört.

Der Bund, Brigitta Niederhauser [05.09.06]
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