Reto Camenisch

Wie am ersten Tag
Als Nicéphore Niepce 1827 in seinem Arbeitszimmer mit Chemikalien hantierte, im Dunkeln wartete, was passieren würde; als zwölf Jahre später Louis Jacques Mandé Daguerre und William Henry Fox Talbot herumprobten und fieberhaft warteten, was passieren würde; als David Octavius Hill wenige Jahre später in seinem Labor stand und wartete, bis sich im Chemiebad langsam eine Landschaft abzeichnete, waren das Urmomente der Fotografie. Diese Prozesse sind heute kaum mehr vorstellbar: Klick - und das Bild ist digitalisiert auf dem Display der Kamera. Reto Camenisch greift mit seinen Fotografien ohne Nostalgie auf jene Momente zurück, in denen das Wunder der Bildwerdung noch eines war.

Wie lange braucht ein Bild, bis ein Bild ein Bild ist? Wie lange braucht die Entwicklung einer Fotografie? Vielleicht ist es ein Zufall: Eben in der Zeit der Fotografiepioniere schrieb Goethe seinen Faust II zu Ende. Zentrum des Dramas: die erfüllte Zeit. Die erfüllte Zeit ist jene Zeit, die satt ist von Gegenwart, eine Zeit, in der sich Gegenwart erst entwickelt wie in einem Labor, wie in der Erinnerung, wie auf einer Fotografie. Die erfüllte Zeit ist ein flüchtiger Moment, ein Augenblick, der in sich alle Fülle trägt - und zugleich das Vergehen dieser Fülle. Es ist jener Moment, der weder schwarz noch weiss ist, von Eindrücken jedoch geradezu flimmert; es ist jener Moment, in dem Schwarz und Weiss die Farben des Regenbogens annehmen. Es ist ein besonderer Moment - jener Moment, der so nie mehr sein wird.

Das ist - nicht erst Roland Barthes hat das in seiner «Hellen Kammer» bemerkt - das durchsichtige Geheimnis der Fotografie. Ihm ist Reto Camenisch auf der Spur. Seine Landschaften entwickeln sich förmlich noch einmal beim Betrachten, bis man nach und nach den Eindruck hat, am Ort zu sein, den er fotografierte - mitten im Urwald Neuseelands, mitten in den Felsen der Gastlosen, am Strand in der Bretagne. Es ist eine urtümliche Kraft, die aus diesen Bildern spricht, eine Unmittelbarkeit und Präsenz, die etwas mit jener erfüllten Zeit zu tun hat, die den stereotypen Ablauf der metrisch weitertickenden Zeit unterbricht oder diese gar aufhebt. So wird der Moment zum Ort, von dem der Fotograf sagt, es sei eine Art von Zuhausesein - obwohl auf diesen Landschaften keine Menschenseele zu sehen ist, ja alle Formen menschlichen Eingriffs ausgeblendet sind und deswegen die Urtümlichkeit, die skulpturale Monumentalität der Formen umso mehr hervortritt. Der einzige Eingriff ist hier - wie bei Ansel Adams - der Blick, der in der Landschaft umherschweift.

Der Blick sieht das Ganze und hat in sich doch etwas Verlorenes: Diese Landschaften sind gross, beinahe zu gross, als dass man sie erfassen könnte. Sie haben etwas von dem in sich, was die Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert «das Erhabene» nennt - aber Camenisch gelingt es, jenes Moment des Überwältigtseins nicht ins Pathetische abgleiten zu lassen. Pathos freilich ist durchaus in diesen Bildern: als Leidenschaft - für den Ort, für den Moment, für das Bild, das sich erst nach und nach in seiner Grösse zeigt. Denn am Anfang ist da die Irritation über das Dunkle, dem der Fotograf Raum lässt. Seine Farbe ist Schwarz, gewiss, aber sein Schwarz ist eben eine Farbe, ist Ton und Tönung jenseits der Verdunkelung. Im Gegenteil: Seine Bilder erhellen sich, gerade im Dunkel zeigen sich die hellen Töne ganz sanft immer deutlicher, da ein Blatt, da ein Zweig, da eine Zeichnung im Fels.

«Die Farbe Schwarz ist die Farbe der Zeit», schreibt der Kunsttheoretiker Boris Groys in seinem Essay «S/W». «Die Zeit zeigt, dass sie schwarz ist, wenn sie zum Raum wird. Die ganze Welt, inklusive der Sonne, ist in der Zeit entstanden - und sie vergeht auch in der Zeit. Das Schwarze, das wir hinter jedem Bild erraten, ist der Zeitraum, in dem jedes Licht erlischt. In diesem Zeitraum erkennen wir unsere wahre Heimat.»

In diesen Zwischenräumen bewegt sich die Fotografie von Reto Camenisch. In diesen Zwischenräumen bewegt sie - als ob die erste Fotografie sichtbar würde. Und dieser Moment hat elementar etwas mit dem theologischen Begriff der Schöpfung zu tun, vor dem wir, trotz aller Aufklärung, immer noch stehen wie vor einem schwarzen Loch.

Konrad Tobler, Sommer 2003
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