Reto Camenisch

Einer zieht los, um heimzukommen

Die Grenze scheint in einem Bild aus Lanzerote markiert zu werden, ... eine Grenze, die zu überschreiten ist. Im Vordergrund zeigt das Bild eine Strassenkreuzung. Ein Schild und eine markante weisse Bodenbeschriftung signalisieren »Stop«, zwei Wegweiser geben mit »Mirador del Rio« die Richtung nach rechts und mit »Arrecife« nach links an. Geradeaus steigt das Gelände allmählich an und öffnet sich, und mit ihm weitet sich der Blick und zieht sich an zwei nur undeutlich wahrnehmbaren, in die Landschaft eingelassenen Gebäuden vorbei hoch, legt die Beschränkungen ab und befreit sich. Reto Camenisch folgt weder dem Wegweiser nach rechts, noch nach links, vielmehr stapft er mit seiner Fotografie geradeaus weiter, lässt die Zivilisation und mit ihr die Geometrisierung der Natur, ihre Domestizierung zur Landschaft hinter sich, macht sich auf ins Offene und Weite, ins Hohe und Tiefe, ins Helle und Dunkle, ins Weiche und Harte. Er bewegt sich räumlich vorwärts und gleichzeitig auf der Zeitachse rückwärts, macht sich auf den Weg in ursprüngliche Landschaften hinein, sucht Welten, die den Begriff Natur verdienen, weil sie nicht oder kaum vermenschlicht, angeeignet, verändert, verwandelt, beherrscht und benutzt sind. Welten, die einer anderen Zeitvorstellung, einer anderen Raumaufteilung, einer anderen Rhythmik gehorchen - und einen anderen Klang haben.
Reto Camenisch stapft und schleppt, kreuz und quer durch die Welt: auf Lanzerote, im Berner Oberland, durchs Engadin, auf den Kilimandscharo, in der Auvergne, Bretagne, durch Andalusien, England, Irland, Neuseeland, Zypern, durchs Entlebuch, Glarnerland und entlang der tausendjährigen Arven durch den uralten Wald Tamangur. Er verlässt die Achsen der Moderne, entzieht sich dem Zeitraster der Gegenwart, und geht hinaus, geht so lange, bis der Brustkorb erst weiter und dann der Atem langsamer wird, bis ein anderes Gefühl sich breit macht, bis der Körper sich ergibt, müde, entspannt, gelöst, die schwere 4x5inch-Kamera und das Stativ abgelegt und anschliessend aufgestellt sind. Reto Camenisch taucht ein, schaut in eine Ebene, die den Blick einsaugt und freigibt. Seine Augen wandern eine Felswand empor, die sich aus ihrem Sockel, vom Fuss der Wand aus in eine reiche Palette an Abstufungen und Vorsprüngen entwickelt, die das Bild »all over« überziehen und sich dem Blick entgegenstellen. Wuchtig und dennoch feingliedrig in den Grauabstufungen. Wir schauen mit ihm in eine Senke hinunter, kräftig vom abfallenden Fels und Geröll hinabgezogen, und finden nicht ein düsteres Höllloch vor, sondern einen Aufschrei von Licht und Nebel, als öffne sich eine andere, umgekehrte Welt. Wir stehen vor einem dunklen Grat, der vorne von Nebel umspielt und hinten in die Silberschlieren des Fotopapiers eingetaucht ist. Ein Koloss der Natur, der sich auftürmt, als müsste er überwunden, gelöst werden wie ein Kloss im Hals. Wir durchwandern mit den Augen vulkanische und granitene Geröllhalden, tauchen in Gesteinsformationen ein, in Licht- und Schattenwurf, streifen durch bizarre Buschwälder, die sich wie wirre Staketen, wie ein Wall von Speeren in den Weg stellen, wandern über wilde Wiesen, die die nackte Erde wie ein Fell zu wärmen scheinen, vorbei an einem buschigen, langsam bewegten Arventanz, mit Blick hinauf in die Weite des ewigen Schnees. Schluchten ziehen den Blick nach hinten, vorbei an der linken Felswand, stockend an der rechten, imaginär den Weg weiterverfolgend. Dann öffnet sich die Welt, und wir schauen aufs Meer, ruhen am Horizont aus, gleiten über Gesteinsformationen, über Wasserflächen, beobachten die Gischt eines Sturmes, lesen Spuren im Fels, Spuren der Zeit, von Wind und Wasser, Niederschläge der Elemente. Pelzig, stopplig, borstig, sandig, samtig wirken die Flächen, über die unser Blick gleitet, oder ruppig, kantig, brüchig, kratzig, schorfig die Halden, die wir rauf- und runterkraxeln. Gefaltete, vernähte, gefleckte, schäumende Natur, die Wand vor den Augen, den Berg vor der Sicht, die Natur in der Seele.
Reto Camenisch stellt uns grossformatige Silbergelatineflächen vor die Augen, dichte schwarzweisse Niederschläge seiner Suche, seiner Sehnsucht, seines Gehens und Sehens, in denen sich Wolken, Nebelschwaden, Ausdünstungen der Natur mit dem Prozess der Polaroidnegativentwicklung vor Ort mischen. Die Flecken, Streifen, Spritzer oder Schwaden im Bild bewirken, dass die Bilder getränkt aussehen, als seien sie tief in den Papierträger eingesunken. Die Pola-Ränder, diese typischen Streifen, Flecken, Linien, Abschattungen am Rande von schwarzweissen Polaroid-Fotografien, wirken wie unausgeschlafener und doch wachsamer Blick und verstärken das Gefühl, einer Art von alchemistischem Prozess beizuwohnen, der das rein Verstandesmässige zurücklässt. Wir sehen die Bilder, tauchen in sie ein, vergessen die Zeit. Sie sind das Resultat langer beschwerlicher Wege, einer Land-Art- oder Existenz-Art-Reise, die Reto Camenisch so weit führt, bis das gesellschaftliche Leben verblasst und er in die Landschaft eintaucht, einsinkt, bis er mit ihr atmet, ihren Rhythmus aufnimmt, bis die Landschaft für ihn zu klingen beginnt und seine innere Natur mit der äusseren Natur eine verloren geglaubte Einheit auf Zeit eingeht.
Camenisch' Fotografien sind Erfahrungs- und Wunschbilder. Wir leben »nach der Natur«, in einer Welt, in der die Natur ihre kritische Instanz als Gegenwelt zur Zivilisation und Gesellschaft eingebüsst hat, in der Natur in allen Ausformungen immer schon umgestaltet, von uns Menschen für irgendeinen Zweck gestaltet ist. Damit haben wir uns, insofern wir uns als Teil der Natur betrachten, eines wesentlichen Ankers selbst beraubt. Die einst glorifizierte Emanzipation von der Natur wird zum Bumerang, die gewonnene Freiheit zerrinnt angesichts der neuen »Basis einer vernutzten Natur« (Gernot Böhme). Reto Camenisch sucht sein persönliches »Heil«, seine temporäre Ruhe und Kontemplation auf seiner Suche nach Übereinstimmung von innerer Natur und äusserer Natur, nach Flecken auf der Erde, die noch ein rousseausches Eintauchen in der Natur erlauben, eine Einheit von Ich und Ort und Zeit. ... Einer der loszieht, um einzukehren, der sich aussetzt, um anzukommen, heimzukommen.
Seine Bilder visualisieren diese Suche, sie sind Ausfällungen der Sehnsucht nach kommunizierenden Röhren, nach einer funktionierenden Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und dem Objekt, die nicht von Beherrschung, sondern von Achtung und Würde geleitet ist, in der wir Agierende die Natur wie ein Instrument zum Klingen bringen. Seine Bilder sind kontemplativ, tief, aber auch ernst. Ihre Dunkelheit lässt keine Heiterkeit zu, sie scheinen zu ahnen, dass diese Ursprungsorte, die ein Eintauchen erlauben, Orte auf Zeit sind. Dieser Restboden wird uns wohl bald ganz unter den Füssen weggezogen, die letzte Natur verwandelt, genutzt, vernutzt sein. Der Ort der Unschuld ist verloren, wir (oder die künftigen Generationen) müssen wohl ganz durch die Trennung von der Natur, durch die Entfremdung hindurch gehen, um eine neue Versöhnung von Natur und Geist zu erreichen. (Hartmut Böhme)
Reto Camenisch' Bilder scheinen diese Doppelung auszustrahlen: Sie sind fotografisch konkrete Spuren seiner Suche, seiner Erinnerung an die Unschuld, an das Eingebettetsein, das Aufgehobensein, sie sind Zeichen eines temporären Ausweges aus dem Rasen der Gegenwart, und sie scheinen aber auch (in Abwandlung von Spinozas Begriffspaar) vom Untergang der sich selbst gestaltenden, gebärenden Natur, der Natura naturans, und von der Dominanz der Natura naturata, der (von Menschen) gestalteten Natur, zu künden.
Die Fotografie im 20. Jahrhundert erlebte den Bruch mit der heiligen Natur, das Ende der Bilder einer unberührten, unversehrten, einer pantheistischen Natur. Das heilige Naturbild von Carlton Watkins, Anselm Adams oder Minor White wurde durch die realistischere Fotografie der Topografen abgelöst, die zeigen, wie fortan die Natur umgewandelt wird, wie sie besetzt, genutzt, beherrscht wird, wie sie sich zum Territorium wandelt. Beispiele sind die Fotografien von Lewis Baltz, Joe Deal, Robert Adams unter einigen anderen. Dieser Schritt war zentral, weil sie der Landschaftsfotografie ihre Kritikfähigkeit, ihren visuellen Scharfsinn zurückgab und sie zu einem zeitgenössischen Analysemedium werden liess, das den aktuellen Zustand im Verhältnis von Mensch und Landschaft seismografisch festhält und dokumentiert. Gegenwärtig nun ist eine Rückkehr zum Landschaftsbild als Urbild, als Teil des Vorbewussten, als Teil der verschütteten Natur festzustellen. Sally Mann mit ihren Bildern des verhangenen, melancholischen amerikanischen Südens oder Jitka Hanzlová mit ihren Waldfotografien als Sinnbilder psychischer Urzustände thematisieren wie Reto Camenisch mit seinen Naturorten den Verlust an Eigentlichkeit, an Ursprung, Urgrund und versinnbildlichen die Suche nach Tiefe, nach Einheit, nach Ganzheit in ihren Fotografien. Wir überprüfen unsere existenzielle Hülle und Lebensfähigkeit in der Spiegelung an der äusseren Natur. Doch innere und äussere Natur sind „endgültig zu etwas geworden, was vor uns liegt, zu einem Projekt", schreibt Gernot Böhme, und die Wiederherstellung der Natur als einer humanen Natur sei eine der zentralen politischen Fragestellungen des 21. Jahrhunderts. Reto Camenisch' Suche gebiert Urbilder, die uns stark an den Verlust von Natur erinnern, die wie Resonanzkörper aus der Tiefe von Raum und Zeit unsere eigene Natur mitklingen lassen.

Urs Stahel

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