Marcel Gähler

Geheimnisvolle Miniaturen
Neue Zürcher Zeitung, 10/11. April 2004

Buch und Ausstellung von Marcel Gähler

Eine Foto, geblitzt an einem Trampelpfad in einer verschneiten Nacht, das Motiv eine aufgerissene Plane im verwilderten Garten - unscharf, schwarzweiss. Oder: ein Wohnblock im Morgengrauen, der verschwommene Schnappschuss einer Schuttmulde, ein Gerüst von Beerenstauden, erfrorener Salat, zertrampelte Büsche, ein verlorener Lappen im Dreck. Marcel Gähler evoziert Erinnerungen an kriminaltechnische Fotoarbeit, an die Bestandesaufnahme an einem Tatort. Doch die Bilder, die der 1969 geborene Künstler in seinem Buch und der parallelen Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur zeigt, sind keine Fotos. Im winzigen Format von 9 x 6 Zentimetern hat Gähler fotografische Vorlagen zu einer art absurdem Fotorealismus verdichtet. Die Liebe zum handwerklichen Detail kontrastiert krass mit der Lakonik der Motive. Der Schriftsteller Peter Stamm, ebenfalls Winterthurer, erkennt in seinem Beitrag zum Künstlerbuch in den Bildern Gählers morgendliche Melancholie: "Auf dem Weg zum Bahnhof begegne ich Menschen mit erschrockenen Gesichtern, mit fiebrig roten Wangen, die Augen weit aufgerissen. Sie kommen aus der Einsamkeit ihrer Nächte und finden sich noch nicht zurecht. Sie werden wie jeden Morgen die Welt zurückerobern." Die Feststellung, dass Gähler mit seinen Miniaturen den regelmässig wiederkehrenden Verlust von Welt ins Bild rückt, ist mehr als plausibel. Das Böse, das Unheimliche wird gebannt, um das Leben zu feiern. Nicht um die toten Aeste im Wald, nicht um den Rebberg im Winterschlaf geht es hier, sondern darum, die Welt zu packen. Mit seinen unglaublich feinen, fleissig ziselierten Zeichnungen dreht Gähler der Kälte eine Nase.

Urs Steiner

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