Christian Weihrauch

Meine möblierten Zimmerchen
Welcher Weg empfiehlt sich? Christian Weihrauch gibt uns einen Katalog seiner Zeichnungen in die Hand, und im Handumdrehen wird daraus eine Fibel, eine Sammlung von Wanderwegen in vertraute und fremdartige Bereiche. Oder handelt es sich um ein Reisejournal des Künstlers, der Wälder durchstreift, Dörfer und Städte besucht, Traumlandschaften entdeckt und dies alles gewissenhaft in seine Kladde verzeichnet? Hier und da findet sich im Titel eine Ortsangabe: Nürnberg, ein Suchbild zwischen mittelalterlich entrücktem Feinstrich und Lebkuchendose. Eine Kirchturmspitze, mit Schiefer verkleidete Häuschen, eine Strandpalme, Spielkartenheraldik sind bis in Einzelheiten genau zu lesen. Zu Weihrauchs zeichnerischer Ausrüstung gehören auch Hemden- und Stoffmuster. Er trägt die Hemdenmarke mit dem großen Karo und liebt die Dame mit dem Fischgrätkostüm. Es findet sich ein Kinderbadeanzug, wie zum Trocknen ausgespannt, eine Trophäe oder ein Fetisch. Für Schnitt und Buntdruck würden Eingeborene und der Malerkollege Paul Gauguin vermutlich viel geben. Hier die Südsee, dort der Thüringer Wald, hier der Jäger und Tundrabewohner, mit leeren Taschen ein glücklicher Mensch, dort der Mann in der Trainingsjacke, ein Zeitgenosse von nebenan. Die alten Märchen haben in  den Blättern ihr Zuhause, und die blaue Blume der Romantiker liegt als Lesezeichen zwischen den Seiten.

Welchen Weg schlagen wir ein? Denn nicht genug damit, dass vor uns ein deutsches Itineraire aus dem Jahr 2003 mit Weltansichten liegt, in dem uns Martin Schongauer, Jean Paul und Wilhelm Hauff unverhofft begegnen können. Begegnungen ganz anderer Art sind vorgesehen. Introspektionen, die Körperinventare ans Licht fördern. Mit Röntgenaugen wird eine innere Anatomie registriert, die unter dem Titel Lanze Ortsansichten im Knie offenbart. Kein Blick auf den Meniskus, sondern ein besonders behüteter, intimer Platz, um das Heimweh zu verkapseln. Ein Lanzenschaft durchdringt das Traumbild, hinter dem sich ein anderes versteckt. Der Zeichner sagt dazu : „Ich möchte gern mal heimkommen als Jäger im Schnee in Pieter Brueghels Bild." Im Fokus erscheinen Innenansichten wie Implantate von Naturstücken, alltäglichen Gegenständen, ebenso aber von Organen und Körperteilen samt ihren Funktionen. Ein anatomischer Atlas eigener Prägung wird aufgeschlagen. Seine Kartografie verknüpft den forschenden mit dem träumerischen, den eindringlichen mit dem schweifenden Blick. Schicht um Schicht, Lage um Lage lassen sich die Bilder aufblättern und entfalten, ohne die zweite Dimension der Papierfläche zu unterwandern oder auszuhöhlen. Der ausschnitthafte, offene Umriss der meisten Zeichnungen befördert jedoch die suggestive räumliche Illusion, die der Zeichner zauberisch im Sinn hat. Hinter den Brillengläsern, die sich in der Zeichnung Lichtenstein so offensichtlich der Bestandsaufnahme des eigenen Körpers widmen, blitzt hin und wieder ein Lächeln und der Funke der Ironie, nicht die geringste Mitgift der Romantik.

Wohin also die Schritte lenken, wenn das Betrachterauge wieder auf eine Wegegabel, vielleicht auf eine Kreuzung trifft, die Reales und Abstraktes rätselhaft verbindet? Nicht allein für das nur ein wenig unterlebensgroße Bild in Bleistift, Aquarell und Kreide mit dem Titel Zonen gilt, was Weihrauch feststellt: „der Körper, ein einziges Gewächshaus, eine große Osmose." Hatte nicht Peter Handkes „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" den Befund literarisch zu organisieren ersucht? Die aufwendigsten virtuellen Ausflüge und Expeditionen haben wir im Film längst lesen gelernt. Und jetzt unternimmt es ein gar nicht naiver Künstler, der uns im Cyberspace Erfahrene mit dem altertümlichen Medium der Handzeichnung auf Karton, Pappe und Papier in Freude und Verwirrung stürzen kann. Er greift zum Bleistift und führt seine Operationen in der vertrauten Manier von Strichen, Strichlagen und Schraffuren vor. Ab und zu eine lange deutliche Linie, in der Regel aber kurze, in Graustufen voneinander abgesetzte Partien, die den so gezeichneten Erscheinungen durch ihre leise Intensität etwas wie Magie zusetzen, den unsichtbar verwobenen Ariadnefaden, der durch das vielstufige Gelände der Körperlandschaften führt. Die Farbstifte, die Weihrauch verwendet, klären das Terrain, sortieren die Details in der Art und Weise, wie Präparate zu Demonstrationszwecken eingefärbt werden. In der Wirklichkeit der Zeichnung erfüllt die Farbe die Eigenschaften eines jeden Traumes, der uns nachgeht, manchmal verfolgt, und von dem sich mitunter sagen lässt, dass er schön oder sogar heiter sei. Mit Buntstiften füllten wir unsere ersten Malbücher aus. Das Malbuch von Christian Weihrauch gibt uns die verlorenen Bücher zurück und lässt uns in noch nicht gesehene Bilder schauen.

Klaus Gallwitz
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