Gnade

„Gnade“ – Ausstellung mit neuen Werken von Caro Suerkemper

Auch mit ihren neusten Arbeiten kennt Caro Suerkemper (1964) keine Gnade: Sie rüttelt am fundamentalen Gegensatz zwischen Setzung des Absoluten und Dialektik des Relativen, sie fordert uns auf, ein historisch hinlänglich legitimiertes, souverän unaufgeregtes Selbstbewusstsein in einem reflexiven Akt der Selbstverspottung aufzuheben. Das vordergründig Sichtbare, manifeste Bondagesituationen, Frauen bei ihrer Notdurft, einengende Trachten, geschnürte Brüste, exponierte Arschbacken, aber auch schmunzelanregende Stupsnasenlütten, also der Augenschein, diese ganze Sphäre der empirischen inneren und äusseren Welt ist jedoch bei ihr bloss Mittel und Pathos, um auf dahinterliegende Wirklichkeiten zu führen.
Caro Suerkemper kleidet ihr bohrendes Interesse an Differenzen, an Hintergründigem in optische Reize und schillernde Farben; die Selbstdarstellung ihrer Figuren unterläuft sie mit skurriler Überzeichnung. Sie macht das sichtbar, was sich dem Sichtbarwerden entzieht: die Entscheidungsprozesse, die Effekte von Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Würde. Ihr gelingt auf subtile, aber effiziente Weise das, was nicht nur Kirche und Gesellschaft jahrhundertelang versuchten, die Disziplinierung der weiblichen Zunge, mulierem ornat silentium, in herausragender Qualität mit Pinsel, Stift und Fingern nicht nur zu hinterfragen, sondern auch blosszustellen. Ihre Kunst ist wahre Avantgarde.
Wahr, weil sie dem Menschen, metaphorisch gesprochen, den Blick auf das Dasein, die wahre Realität freilegt. Sie geht hier entschieden an die Grenzen und noch etwas weiter, gar bis ans Gemeine. Einwände mangelnder Dezenz jedoch laufen hier ins Leere. Diese mit meisterlicher Hand produzierten, so lustvoll verschachtelten Aquarelle und Skulpturen spritzen vor barockem Pathos, und doch – dem aufmerksamen Betrachter bleiben sie transparent nicht nur im Einsatz der Kunstmittel, sondern auch auf das Thema hin: Es geht um die Tiefenschichten, hinab zu den tektonischen Gründen, wo soziale, normative, moralische und ästhetische Erdbeben auf komplizierte Weise miteinander verbunden sind. Kants Gedanke, dass es in der Rezeption (resp. „ästhetischen Beurteilung“) darauf ankomme, was wir aus den gegebenen Vorstellungen machen, wird bei Suerkemper insofern präludiert, als sie den Eindruck des Begehrlichen oder des Schönen zwar von bestimmten Verhältnissen abhängig macht, doch diese sind nicht selbst das Wahre, sondern nur Vorbedingung. Während die aggressiven Energien oppositioneller Kunst heute weitgehend in der Luft verpuffen, während sich auf ihre Mutter berufende oder mit Pornostars kopulierende Künstler gehypt werden, ist Suerkempers Position avantgardistisch. Sie hat erkannt, dass künstlerische Provokationen nur mehr Mittel zum Zweck sein können, dass Polemik per se und Schlüsselreize längst nur noch harmlose Rituale sind. Ihre Botschaften jedoch stellen eine echte Alternative zur heute so zahlreichen „Made-to-Sell-Kunst“. Mit Biss, Ironie, Persiflage, Entschiedenheit und Wahrhaftigkeit aquarelliert und modelliert die Berliner Künstlerin ihre Werke.
Gerne weist Caro Suerkemper darauf hin, dass ihre Arbeit auch etwas Barockes hat. In der Tat sind nicht nur ihre Blätter, Porzellanfiguren, ihre Unterglasmalerei und ihre Marmorskulpturen, sondern auch die Arbeitstitel (Anmut, Würde, Gnade, Carokoko usw.) ausserordentlich und schon deshalb barock – und wiederum doppeldeutig. Das Ausserordentliche packt uns in der Antike und Renaissance, im Barockstil stösst es uns ab, wir empfinden es als störend, wie eine lästige Unklarheit; z. B. eine Figur, die betet und sich dabei in konvulsivischen Bewegungen krümmt, eine Frau mit „barocken“ Formen, die aus einem Rollstuhl uriniert. Wir fragen: warum diese Bewegungen? Tja, warum wohl? Gnade uns, den Rezipienten!
(Philippe Rey)
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